„So eine wie ich ist hier eigentlich nicht vorgesehen.“
„Eselshure“, „Schlitzi“, „Ausgeburt der Hölle“. So wird sie von den Kindern gerufen, wenn sie durch das Dorf huscht. Das Dorf wird von allen das „Schöne Dorf“ genannt und liegt auf einer einsamen Insel irgendwo im Meer. Ein Paradies – Farben, Gerüche, Architektur, Vegetation werden so beschrieben, dass der letzte Griechenlandurlaub zwangsläufig vor unserem geistigen Auge entsteht.
Die Ich-Erzählerin ist ein namenloses Mädchen, irgendwo an der Schwelle zum Erwachsenwerden, das als Findelkind ins Schöne Dorf kam. Es weiß nicht, woher es kommt, weiß nicht, wer seine Mutter ist und unter welchen Umständen es hierher gekommen ist. Eines Tages lag sie in einem Pappkarton, gebettet auf alten Zeitungen, an der Türschwelle eines Hauses. Dieses Haus war das vom Bethaus-Vater und das war ihr Glück, denn hätte das religiöse Oberhaupt des Dorfes nicht seine schützende Hand über sie gehalten, hätte sie die Babyjahre wohl nicht überstanden, denn alles was von Außen kommt, ist den Dorfbewohnern zutiefst suspekt. So lebt das Kind mehr oder weniger als Schattenexistenz, führt den Haushalt ihres Ziehvaters und wird für einfache Tätigkeiten in der Liturgie herangezogen
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. Es stellt seine Stellung in der Gemeinschaft nicht in Frage, zumindest nicht, solange es ein Kind ist.
Das Dorf ist streng patriarchal organisiert, es gibt den Ältestenrat, der alles entscheidet, Frauen spielen eine gänzlich untergeordnete Rolle, sie dürfen die Schule nicht besuchen, nicht lesen lernen, werden früh verheiratet und können am gesellschaftlichen Leben nur bedingt teilnehmen. Allen, die gegen die Gesetze verstoßen oder gar versuchen, die Insel zu verlassen, werden drastische Strafen angedroht. Die moderne Welt wird von den Dorfbewohnern bewusst fern gehalten, die Waren, die der Händler in unregelmäßigen Abständen von der „Drüben-Welt“ bringt, werden sorgsam überprüft und nur ausgewählt ins Schöne Dorf gelassen. Manchmal gibt es Brillen, Zahnprothesen oder Feuerzeuge, ja, irgendwann landet ein Fernseher im Haus eines Dorfbewohners, ganz ohne Nutzen, denn Strom gibt es keinen auf der Insel.
Karen Köhler hat für ihren Roman intensiv recherchiert, ja, geradezu ethnologische Studien betrieben. Und das Außergewöhnliche dabei ist wohl, dass sie sich zur Findung ihres Stoffes nicht auf irgendwelche abgelegenen Inseln nach Polynesien oder ins tiefste Afrika begeben hat, und somit in die Ethno-Trickkiste der fremden Kulturen greift, nein, ihre Recherchen führten sie ins gar nicht so weit entfernte Griechenland. Über einen längeren Zeitraum ist Köhler durch abgelegene Dörfer gereist und hat mit den alten Menschen gesprochen. Menschen, die sich immer noch nicht daran gewöhnt haben, dass es in ihrem Dorf jetzt Strom gibt oder auch alte Leute, die jeden Tag einen beschwerlichen Fußweg in Kauf nehmen, um ihr längst verfallenes Haus zu „besuchen“. Mit Dolmetscher*innen hat sie viele Stunden an alten Holzküchentischen verbracht, bei der Olivenernte geholfen und nach und nach die Geschichten der alten Dorfbewohner*innen erfahren. Dass das nicht immer romantische Episoden aus den guten alten Zeiten waren, kann man erahnen, wenn man ihren Roman liest.
Die Hamburgerin Karen Köhler hat vor einigen Jahren mit ihrem Erzählband „Wir haben Raketen geangelt“ für großes Aufsehen gesorgt und ihr erster Roman wurde mit Neugier, ja von vielen sogar mit Sehnsucht erwartet. Und auch in Miroloi zeigt sie eindrucksvoll, wie wichtig Sprache für sie ist. Ja, natürlich geht es auch um die Geschichte, die erzählt wird, aber die Sprache hat mindestens so eine Bedeutung wie der Plot.
Das Mädchen beschreibt die Dinge unmittelbar und äußerst bildhaft, denn für vieles hat sie keine Wörter, Gefühle kann sie nicht benennen. Oder doch, aber nicht auf der Metaebene, sondern nur, in den ihr möglichen, einfachen Sprachbildern. „Ich gehe beim Gehen. Ich koche beim Kochen. Ich esse beim Essen.“ Das sagt sie einmal am Beginn des Buches und es gibt wohl keine schönere Ausdrucksweise für das „Ganz-bei-sich-Sein“, für das In-Sich-ruhen.
Doch irgendwann beginnt das Mädchen an der göttlichen Ordnung zu zweifeln und stellt langsam aber stetig, immer mehr Dinge in Frage. Auslösende Momente für diese Bewusstseinswerdung sind zwei klassische Dinge, die den Menschen seit jeher dazu gebracht haben, Veränderungen mit aller Kraft durchzusetzen: Bildung und Liebe. Sie lernt heimlich lesen und verfällt rasch der Faszination, die vom gedruckten Wort ausgeht, bemerkt aber ebenso schnell die Macht, die man dadurch erhalten kann. Wörter bekommen für sie plötzlich eine andere Bedeutung, ihre Sprache verändert sich, und wird zum Abbild ihrer denkerischer Möglichkeiten – mit deren Wachsen wächst also auch die Sprache im Text: anfangs nahezu roh, immer klar, mal naiv, mal staunend, wird sie sich ihrer selbst zunehmend bewusst, sie durchschaut Zusammenhänge, erstellt Verknüpfungen. Das Ganze geht natürlich mit einer großen Unsicherheit einher, wie immer, wenn eine immer schon dagewesene Ordnung auf den Kopf gestellt wird. Sie „geht nun nicht mehr beim Gehen“, sie „kocht nicht mehr beim Kochen“, sie versteht die Welt nicht mehr, Wissen zu erlangen ist selten der Weg in ein bequemes Leben.
Die zweite Antriebsfeder ist die Liebe, die sie wie ein Blitz trifft. Natürlich darf eine wie sie keinen Mann haben, darf nicht heiraten und keine Kinder bekommen. Doch bei einem ihrer Botengänge stolpert sie über einen jungen Betschüler und die beiden beginnen eine heimliche Liebe. Das klingt nach unerträglichem Kitsch unter griechischem Sternenhimmel, und ja, es ist anrührend und trifft einem beim Lesen mitten ins Herz. Aber genauso soll es sein: Miroloi ist ein Buch, bei dem du immer wieder den Atem anhältst, dich nicht traust eine Seite umzublättern, weil du Angst hast, vor dem, was der Heldin im nächsten Kapitel widerfahren wird. Solche Bücher brauchen wir, denn wir wissen, dass politische Botschaften oder gesellschaftlich relevante Themen in der Literatur am besten über Emotionen vermittelt werden. Dadurch eignet sich Karen Köhlers Roman auch ganz hervorragend als Buch für junge Menschen, Leser*innen, die vielleicht gerade dem Harry-Potter-Alter entwachsen sind und sich mitnehmen lassen wollen, auf eine märchenhafte Reise, die trotz bildhafter Sprache, Romantik, Tragik und Entrücktheit etwas ungemein Aktuelles und Politisches hat.
Viele der (meist männlichen) Literaturkritiker im deutschen Feuilleton haben das Buch geringschätzig als Jugendbuch bezeichnet und allein, dass dies abwertend gemeint sein soll, sagt so einiges aus über die Arroganz mancher Hüter des heiligen Grals der Literatur. Was ist schlecht an einem guten Jugendbuch? Was ist verwerflich daran, junge Leser*innen mit der Macht von Geschichten zum Nachdenken anzuregen? Und gibt es nicht genügend Bücher, die zwar in den Jugendabteilungen der Buchhandlungen stehen, aber ursprünglich nicht für Jugendliche geschrieben wurden, sondern gesellschaftliche Probleme so darstellen, dass sie sowohl von Jugendlichen als auch von Erwachsenen gelesen werden können? Moby Dick, Tom Sawyer, Gullivers Reisen und vieles mehr – niemand würde bei diesen Romanen abstreiten, dass sie zum Kanon der Weltliteratur gehören.
Und auch Miroloi kann als aufklärerischer Bildungsroman bezeichnet werden, als Parabel auf Politik, Unterdrückung und Emanzipation, es ist auch ein Buch, dass sich mit dem komplexen Thema Religion auseinandersetzt und gleichzeitig eine Kritik an kirchlichen Institutionen ist. Als Alina endlich lesen kann, fällt ihr die Heilige Schrift des Bethaus-Vaters in die Hände und staunend entdeckt sie, dass der Text in mehreren Fassungen existiert. Im Laufe der Geschichte wurden Stellen geschwärzt, verbessert und umgeschrieben. Wie aber kann das sein, ist es doch eine Gesetzessammlung die direkt von Gott kommt? Haben da etwa Menschen die Hand im Spiel? Geht es vielleicht nicht um Glauben sondern um Macht? Diese Erkenntnis erschüttert die Grundfesten von Alinas Welt, und führt uns mitten hinein, in eine Religionsdebatte, die aktueller nicht sein könnte. Religion als Werkzeug der Unterdrückung, gemacht und gestaltet von Männern, um die „gottgewollte“ Ordnung des patriarchalen Gesellschaftssystems zu erhalten.
Wie es für Alina ausgeht, darf nicht verraten werden, doch egal, was mit ihr passiert, wir wissen, es wird immer Alinas geben, die diese Gesetze hinterfragen, die ihren eigenen Weg gehen, auch wenn die Umstände noch so schwierig erscheinen. Und deswegen wünsche ich Miroloi ganz viele Leser*innen aller Altersgruppen, aus möglichst vielen verschiedenen Kulturen!