Peter Sommerfeld
Korneuburg, am 29.12.2009
Meinem Buchhändlerehepaar!
Ja, wer kann davon sprechen, dass er damit ausgestattet ist? Es muss ein glücklicher Leser sein. Und jetzt diese Gabe: W.G. Sebald, Jan Peter Tripp: »Unerzählt«. Liebes Buchhändlerehepaar, hier ruft Ihnen einer zu: besser geht es nicht; da treffen sich die Superlative. (Welche Unmöglichkeit, welche Paradoxie!) Aber bleiben wir, so wie Sebald, ganz einfach (was mir sehr schwer fällt – gerade deshalb liebe ich es bei anderen, die es beherrschen, als gäbe es nichts Leichteres auf der Welt, umso mehr) und sagen wir: das ist ein „Buch“. Es handelt sich beinahe um DAS Buch. Es versammelt all die Geheimnisse, all die Begeisterung und all die Liebe und Sorgfalt, die in einem solchen besonderen „Ding“ aufgehoben sein können.
Dieses Buch – allein schon der Titel »Unerzählt« markiert so etwas wie die weltgewordene Idee von „Buch“ überhaupt, kurz: ein Faktotum im ureigensten Sinn – dieses Buch also steht für einen gelungenen Dialog zwischen einem Buchhändlerehepaar und einem seiner Leser.(Ich spreche bewusst nicht von einem Kunden, denn das wäre genau in dieser Situation an der Grenze der Häresie oder jenseits der Grenze des guten Geschmacks.)
Ich habe vorhin das Wort Sorgfalt erwähnt. Das tritt einem beim Blättern auf jeder Seite dieses Buches entgegen, ja man ist dazu aufgefordert, beim Wenden der Seiten eine ähnliche Sorgfalt aufzuwenden, wie sie sich vom Buch her zeigt. Das betrifft natürlich in erster Hinsicht die Texte und die Bilder, aber auch die typographischen und satztechnischen Besonderheiten. Das alles steigert sich dann zu einer Ekstase der Poesie. Sorgfalt. Das trifft aber auch auf das zu, was Sie mit ihrer Auswahl an Literatur und der gesamten Atmosphäre, einschließlich der dort ihrer Tätigkeit Nachgehenden, in ihrer Bücherkammer in der Währingerstraße repräsentieren. (Verzeihen Sie bitte das Wort „Kammer“. Es soll nicht im Sinne einer Verniedlichung hier gebraucht sein, sondern vielmehr einen besonderen Ort anzeigen, der in der Lage ist, dem dort vorfindlichen Besonderen die nötige Geborgenheit zu geben. Immer und immer wieder. Ähnlich dem Allerheiligsten des Jüdischen Tempels oder der Kammer Mariens, wo ihr der Engel erscheinen ist. Mit dem Unterschied natürlich, dass Ersteres nur an bestimmten Tagen und nur vom Hohepriester alleine aufgesucht werden durfte und Zweitere zum Intimissimum einer Frau gehörte, die sich die Mutter Gottes nennen darf. Ich weiß, Sie werden jetzt denken, dass Ihnen der Sommerfeld etwas gar zu verschroben daherkommt. Vielleicht bräuchte der eine Art Psychoanalyse, um nicht dem Fetisch des Buches auf gesamter Linie zu erliegen …) So recht in Fahrt gekommen, würde ich nun sogar so vermessen sein (auf die Gefahr hin, dass sie mich für einen unverbesserlich pathetischen Menschen halten), von einer Aura im Benjaminschen Sinn zu sprechen: jene unwiederbringliche Einmaligkeit, jene Unwiederholbarkeit, jenes Strahlen des Unikats, jenes stets neue Chaos der Kammer (dem eine dem Leser unbekannte, komplexe Ordnung zugrunde liegt(1)), das den Eintretenden erfasst und mit sich reißt. Sorgfalt, das ist das, was ein Mensch wie ich viel zu oft vermisst. Darum schwimmt er auch immer wieder solche Inseln an, wie die Ihre eine ist. Ich bin nun auch ganz egoistisch und wünsche mir, dass es diese Insel noch möglichst lange geben wird. Sie versorgt mich mit Lebensnotwendigem. Genau darauf will ich nicht verzichten. Und wie auch könnte ein Gott wollen, dass einer wie ich darauf verzichten wollte? In diesem Sinne wünsche ich Ihnen ein gutes Neues Jahr
Ihr ergebenster Peter Sommerfeld
Post scriptum: Diese Nachschrift Dankt sich einem nicht geringen Zufall, einem tychonischen(2) Ereignis sozusagen. Das Vorwort Ihres Geschenkes stammt von einem gewissen Hans Magnus Enzensberger. Dieser Herr und auch Ihre sorgfältige Kammer kommen in einer kleinen Geschichte vor, die ich vor einiger Zeit verfasst habe.
Diese will ich Ihnen, auf die Gefahr hin, dass Sie den Sommerfeld nun der Aufdringlichkeit bezichtigen, nicht vorenthalten.
(1) Die Ordnung zu erkennen, würde dem Moment der Vertreibung aus dem Paradies gleichkommen. Der Zauber der Kammer würde einer sachlichen, inventurähnlichen Auflistung der dort vorhandenen Gegenstände weichen: das Ende des Paradieses eines Lesers.
(2) Liebes Buchhändlerehepaar, bitte verzeihen Sie diese etwas belehrend wirkenden Fußnoten. Belehrung steht nicht in meinem Intentionsregister Ihnen gegenüber. Das wäre wohl die unmöglichste Hybris, derer ich mich bemächtigen könnte. Nein, liebes Buchhändlerehepaar, diese Fußnote dient nur dazu, einem kleinen Hinweis auf das „Tychonische“ Platz zu geben, der doch im Text selbst zu ausufernd ausfallen würde. Tyche: die Göttin des Zufalls, die Quertreiberin der Statistiker und ihrer Werkzeuge. Eine Göttin, die meiner Familie und mir im vergangenen Jahr mit ihrem ereignishaften Auftreten so manche Bedenklichkeit gestiftet hat, wenn man sich so ausdrücken will. Hier jedoch hat sich Tyche alles Tragische gespart, um vielleicht einer ihrer poetischen Launen zu frönen. Wo wäre die Poesie ohne das tychonisch Ereignishafte? (Ich weiß, das hätte Doderer wahrscheinlich nicht geschmeckt, dafür Celan.)