Milena Flasar
Ein Jahr ist vergangen, seitdem wir hierher, nach Währing, gezogen sind und wenn man mich heute fragt, ob ich mich hier zu Hause fühle, dann sage ich Ja, obwohl ich manchmal noch Heimweh habe, Heimweh nach Ottakring, gerade jetzt, wo die Kastanien blühen, Heimweh nach Radfahren auf der Hasnerstraße. Zu Hause. Das ist ein schönes, weil unendlich dehnbares Wort. Eins, das so weit ist, dass in ihm unzählige Orte Platz haben, auch solche, die eigentlich keine Orte sind, vielmehr: Räume, in denen es sich gut leben lässt, wenn Leben bedeutet, von einem Raum in den andern zu gehen, voller Staunen über all die kleinsten Kleinigkeiten, die einem darin begegnen. Das Prasseln des Regens etwa. In ihm bin ich zu Hause. Mit unserem Sohn, der kurz nach unserem Umzug hierher geboren wurde, sitze ich am Fenster und wir horchen beide hinaus, in den Regen. Er ahmt sein Prasseln nach, macht Zaaa-zaa-za, und auch in diesen seinen allerersten Wörtern bin ich zu Hause, in den kleinen Händen, die sich nach dem Himmel ausstrecken, ihn sachte berühren. Radfahren, das gehört vorläufig der Vergangenheit an. Seitdem wir hierher gezogen sind, bin ich hauptsächlich zu Fuß unterwegs. Vor mir, schon Teil meines Körpers, der Kinderwagen, ein weiteres Zuhause. Und so gehe ich die neuen Wege ab, die ebenfalls schon Teil meines Körpers geworden sind, die Weimarer Straße, die Martinstraße, die Währinger Straße, und bleibe immer wieder bei Hartliebs stehen, weil das ein unwandelbares Zuhause ist: Der Geruch von Büchern, bis zur Decke. Dieser köstliche Geruch, wenn man ein Buch aufschlägt und darin einen Satz findet, den man selbst gerne geschrieben hätte. Der Geruch von Gedanken und Ideen. Der Geruch von demjenigen, der sie zu Papier gebracht hat. Ich werde wohl noch viele Male stehen bleiben. Und wer weiß? Vielleicht wird unser Sohn bei einem dieser vielen Male seine kleinen Hände nach dem Buch ausstrecken, in dem ich gerade blättere und das Geräusch der Seiten nachahmen, para-para. Kastanienbäume gibt es immerhin auch in Währing. Einer blüht vor dem Fenster, an dem wir in den Regen hinaushorchen.
Milena Michiko Flašar, geboren 1980 in St. Pölten, hat in Wien und Berlin Komparatistik, Germanistik und Romanistik studiert. Sie ist die Tochter einer japanischen Mutter und eines österreichischen Vaters und lebt als Schriftstellerin in Wien.