Der Streit um die Flüchtlingspolitik und der Mythos vom Rechtsbruch
Eines gleich vorweg: Das Sachbuch »Die Zauberlehrlinge«, das 2019 im Frühjahr erschienen ist, ist ein sehr lesenswertes Werk. Auch wenn es die (politischen) Verhältnisse in Deutschland des Jahres 2015 reflektiert – da kamen ja viele Flüchtlinge aus Syrien dort an –, so ist es auch und gerade für Menschen aus Österreich sehr interessant, denn immerhin sind die Flüchtlinge ja durch Österreich nach Deutschland gezogen, die Grenzen waren offen, und es gab auch hierzulande heiße Debatten darüber. Und wenn ein Sachbuch anregend geschrieben ist und zu denken gibt, dann hat es bei mir schon gewonnen. Zunächst eine der Anregungen, die das Buch gegeben hat.
Gesetzt den Fall, es gibt Unbill, mit der man zu kämpfen hat. Um sie abzuwehren, braucht man Hilfe, deswegen fragt man eine Vertrauensperson um Rat. Diese Person, stets wohlmeinend, empfiehlt dann etwa: ›Lass es nicht an dich ran!‹ Oder: ›Du hättest das nicht an Dich ranlassen sollen!‹ – Etwas, das bereits da ist, nicht an sich ranlassen. Sowas ist eine Abort-psychologische Auffassung, die, wenn schon nicht weltfremd, so doch herzhaft dumm ist. Die dem zugrundeliegende, meist bodenlos moralisierende Überzeugung solcher Personen ist: ›Du hättest dich nicht öffnen sollen‹ – so oder ähnlich formuliert. Bedauerlicherweise neigen durchaus kluge Menschen dazu, derlei idiotische und unnütze Empfehlungen auszusprechen.
›Man hätte die Grenzen nicht öffnen sollen‹, so kann man die Maxime formulieren, die hinter der so genannten »Rechtsbruch-These« steht, die seit 2015 (eigentlich schon vorher, wie die Autoren zu Beginn des Kapitels 9 zeigen) insbesondere die Flüchtlingspolitik in Deutschland bzw. die Debatte darüber dominiert. Das Problem dabei: Die Grenzen waren bereits offen, Deutschland ist EU-Mitglied, Österreich auch. Die Grenzen sind gar nicht erst geöffnet worden, und schon gar nicht rechtsbrüchig oder -widrig. Die zumeist syrischen Flüchtlinge des Jahres 2015 waren bereits da, sie ›nicht an sich ranzulassen‹ ist ein weltfremder Wunsch, angetrieben von sattsam bekannten Ideologemen. Die deutsche Bundesregierung ist damals schlicht und einfach internationalen rechtlichen Normen gefolgt, so etwas kann kein Rechtsbruch sein. Wie es zu dieser faktenwidrigen »Rechtsbruch-These« kam (»Mythos« steht im Untertitel des Buches) und welche rechtlichen und politischen Hintergründe dabei wirksam waren, untersuchen Detjen und Steinbeis akribisch und ausführlich, sorgfältig formulierend und sehr spannend.
Was das Buch darüber hinaus so wertvoll macht, ist, dass die Autoren die Ereignisse der sog. »Flüchtlingskrise« noch einmal Revue passieren lassen. Zu vieles hat man bereits vergessen oder – so wie ich als Österreicher – gar nicht gewusst. Besonders gelungen ist den beiden die Einbettung des Themas in den Komplex ›Grundgesetz, Internationales Recht, Menschenrechte etc.‹ und seine maßgebenden Diskurse. Bis ins Detail überzeugend legen Detjen/Steinbeis dar, welches juristische Argument – ob pro oder contra –, das damals ins Treffen geführt wurde, triftig ist, und welches nicht. Dabei zeigt sich auch, wes Geistes Kind jene sind, die die Lüge des »Rechtsbruchs« vertreten haben und immer noch verbreiten oder relativieren, wie das etwa ein paar nassforsch argumentierende Rezensenten tun. Es tut gut, das zu lesen, auch weil die Autoren auf das moralisierende Gejammere, das oft genug die Begleitmusik der Diskussionen um Asyl abgibt, verzichten; sie sind stets sachlich, sie argumentieren immer stringent.
Das Buch ist in jeder Hinsicht lehrreich – für mich immer eines der wichtigsten Kriterien für die Qualität eines Sachbuchs. Was es zusätzlich noch wertvoll macht, ist der Umstand, dass es diesseits seiner Faktenfülle von anregenden Überlegungen zum Thema Demokratie durchzogen ist. Oft meint man ja – verkürzt ausgedrückt –, es genüge, dem Volk aufs Maul zu schauen, dementsprechend dann einen Willen des Volkes zu mutmaßen, um dann etwas (Gesetze z.B.) zu etablieren, das man deswegen gerne als ›demokratisch zustandegekommen‹ tituliert. Mitnichten. Das Phänomen der Selbstbestimmung, das dem Begriff der Demokratie inhärent ist, verweist eben nicht auf ein selbstbezügliches Losgelöstsein von allem Anderen, sondern es ist vielmehr so: »Selbstbestimmung heißt, Bindungen einzugehen.« (Seite 157) Denn: »Selbstbestimmung ist nicht das gleiche wie Willkür.« (Seite 158) (Das sollte man übrigens Horst Seehofer, der AfD, FPÖ, ÖVP, dem Orbán, dem Salvini und den Visegrad-Führern erklären.) Selbstbestimmung, so Detjen/Steinbeis, »heißt, Verantwortung für sich selbst zu übernehmen« (ebenda). Genau das hat 2015 die deutsche Bundesregierung während der »Flucht- und Migrationskrise« getan. Auf der Grundlage geltender Normen Bindungen einzugehen ist ein Mehr und kein Minder an Freiheit.
Zum Schluss noch weitere schöne Sätze aus diesem extrem empfehlenswerten, hervorragend geschriebenen und deswegen sehr gut verständlichen Sachbuch (Seite 173): »Erst durch die Verfassung gerät ein Volk überhaupt in die Lage, kollektiv verbindliche Entscheidungen treffen zu können. Erst durch die Verfassung kann von Demokratie überhaupt die Rede sein. Ohne Verfassung sind die Deutschen, was immer sie sonst verbindet, nur ein Haufen Leute, die sich wechselseitig, außer aus Furcht vor Prügel, voneinander überhaupt nichts sagen zu lassen brauchen.« – ›Deutsche‹ in dieser Passage kann man durch welche Nationalität auch immer ersetzen. In diesem Sinne: Dieses Buch ist großartig, man sollte es gelesen haben, man sollte es an sich ranlassen. Höchste Kaufempfehlung!
von Martin Ross