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Der Buchpreis und ich: eine Selbsterfahrung als Jurorin

Oktober 2019

„Du wirst nächstes Jahr viel Arbeit haben“, lacht Teresa, nachdem sie die Post geöffnet hat und wedelt mit einem Blatt Papier vor meiner Nase herum. „Wie meinst du das – ich hab immer viel Arbeit“, will ich gerade sagen, und dann sehe ich schon den Briefkopf: Börsenverein des Deutschen Buchhandels und in dem Augenblick ahne ich es schon: Das ist die Frage, ob ich an der nächsten Jury des Deutschen Buchpreises teilnehmen will. Zwei Tage Bedenkzeit werden mir eingeräumt, doch entschieden hab ich mich beim erstmaligen Lesen des höflichen Anschreibens. Wie könnte ich da Nein sagen? Was soll schon so schlimm daran sein, ich lese ja eh ständig, dann eben ein paar Monate nur deutsche Literatur und ein bisschen mehr als sonst, und ich muss vielleicht hin und wieder zu irgendwelchen Sitzungen reisen. Ich freue mich darauf und fühle mich geehrt.

Zunächst bleibt alles geheim, niemand darf davon erfahren, erst im Februar gibt es eine Pressemitteilung, ich verbiete mir irgendetwas anderes als deutsche Literatur zu lesen, schließlich könnte etwas davon auf der Liste sein. Den neuen T.C. Boyle verschlinge ich mit schlechtem Gewissen noch rasch in zwei Nächten.

Erstes Treffen in Frankfurt, wir beschnuppern uns gegenseitig vorsichtig, ich freue mich, dass Daniela Strigl auch zugesagt hat, obwohl sie es vor zehn Jahren schon mal gemacht hat. Ein vertrautes Gesicht und eine zweite Österreicherin, das beruhigt mich ein wenig.

Es gibt eine mehrere Seiten umfassende Liste, darauf stehen 173 Titel. Dazu eine sogenannte Vorschlagsliste, von der die JurorInnen nachnominieren können, was sie für prüfungswert erachten. Überhaupt dürfen wir draufsetzen, was wir wollen, doch angesichts der Fülle, üben wir Zurückhaltung. Nun ist die Liste auf über 200 angewachsen, das heißt, jede/r von uns bekommt ein Kontingent von dreissig zugeteilt. Diese Bücher liegen nun in meiner Verantwortung, empfehle ich sie den anderen Juroren, haben sie gute Chancen weiterzukommen, lehne ich sie ab, kommt es darauf an, ob ein anderes Jurymitglied von dem Buch begeistert ist. Wir bekommen noch Infomappen mit den nächsten Terminen, die Ermahnung, nichts aus diesen Sitzungen nach außen zu tragen und einen E-Reader für all jene Texte, die es noch nicht in Buchform gibt.

Langsam trudeln die Kartons ein, das einzig freie Regalbrett in unserer Wohnung ist im Esszimmer, das könnte ein Problem geben, wenn wir Besuch empfangen, wo doch alles so geheim ist. Als ich darüber nachdachte, ahnte ich noch nicht, dass in den nächsten Monaten für Besuch ohnehin keine Zeit sein wird.

Die fünfeinhalb Meter sind eindrucksvoll, nur einige wenige habe ich bereits gelesen, obwohl ich seit Jänner nur deutsche Literatur lese, auf Verdacht, ohne die Liste der eingereichten Bücher zu kennen, keinen Krimi, keine Übersetzung – ach, wie gerne würde ich Max, Mischa und die TED-Offensive lesen – kein Jugendbuch, keine Zeitung. Die Trefferquote ist nicht berauschend.

Und dann tauche ich ein in das Abenteuer „Marathonlesen“. Ich lese nach dem Aufwachen und vor dem Einschlafen, in der Mittagspause und auf dem Klo. In der Straßenbahn und am Beifahrersitz des Autos. Ich lese ganze Tage und halbe Nächte, und wenn in der Buchhandlung nicht viel los ist, sitze ich auf Abruf am Küchentisch und lese. Auf meinem täglichen Frühmorgen-Spaziergang mit dem Hund, denke ich über all das Gelesene nach. Sämtliche Geschichten verweben zu einem Brei, in dem mal DDR-Historie, Zweiter Weltkrieg oder vertrackte Beziehungen obenauf schwimmen und irgendwann fällt es mir siedend heiß ein: Ich sollte dieses Jahr noch ein eigenes Buch schreiben. Wenn der Abschlussband meiner Schnitzler-Reihe im Sommer 2020 erscheinen soll, muss ich ihn im Sommer 2019 schreiben. Ich habe keine einzige Idee dazu, kein Jahr, in dem es spielen könnte, keine Szene, durch die ich meine Marie schicken könnte. In meinem Kopf befinden sich nur fremde Geschichten und fast jeden Tag kommt eine dazu. Das Gespräch mit der Verlegerin ist kurz und schmerzlos, „Das dachte ich mir schon, dass das nicht geht“, meint sie lapidar, „dann erscheint es halt ein Jahr später“ und schenkt uns noch ein Glas Wein ein. Das Treffen findet einen Tag nach dem sogenannten „Ibiza-Wochenende“ statt, da haben wir ohnehin Wichtigeres zu besprechen.

Während ich nun also an meinen zweieinhalb buchhandlungsfreien Tagen pro Woche lese und lese und lese, trudeln von den KollegInnen der Jury ständig Bewertungen via Mail ein und auch ich schreibe über jedes Buch eine kurze Kritik. Allein diese Korrespondenz zu bewältigen, würde normalerweise einen halben Arbeitstag pro Woche beanspruchen und ein „Best-of“ wäre ein durchaus unterhaltsames Buch. Ich freue mich über die Kommentare, versuche die unterschiedlichen Geschmäcker der Jurymitglieder rauszufinden, jeder hat seinen eigenen Humor, seine ganz persönlichen Abneigungen. Ein paar hymnische Besprechungen sind dabei, viele „ich weiß nicht so recht“.

Ich fühle mich ein bisschen weniger gestresst, nachdem ich mein Buchprojekt abgesagt habe und mich nur noch dem Lesen widme. Ganze Tage verbringe ich mit Büchern, auf dem Sofa, im Freibad, im Garten von Freunden, im Wochenendhaus und gewöhne mir an, jedes Buch sofort zu kommentieren, denn in meinem Kopf gehen inzwischen die Menschen von mindestens zehn verschiedenen Romanen miteinander komplizierte Beziehungen ein, und die Welt – zumindest die literarische – ist voll von Männern, die über fünfzigjährig auf dem Barhocker sitzen und darüber nachdenken, warum ihre Frauen sie verlassen haben und was das alles mit ihrer DDR-Vergangenheit zu tun hat.

 

Trotz all des Drucks, der mich manchmal mitten in der Nacht hochschrecken lässt, ist es doch gleichzeitig auch ein Gefühl der Entschleunigung: Handy aus, Kopfhörer mit Bach auf den Ohren, Notizen ausschließlich mit Bleistift im Heft und nicht am Laptop, damit ich ja nicht in Gefahr laufe, mich im Internet zu verlieren. Der Gang zum Kühlschrank wird selten angetreten und ich teste mehrere Male, wie lange Wäsche in der Waschmaschine bleiben kann, bevor sie zu riechen anfängt. Das Wochenende bei den Schwiegereltern verbringe hauptsächlich im ehemaligen Kinderzimmer meines Mannes, schließlich muss ich lesen.

Bücher unbekannter Autorinnen aus kleinen Verlagen, schräge und experimentelle Geschichten, die ich ohne Zwang wohl niemals gelesen hätte und mir großes Vergnügen bereiten. Texte von nicht mehr ganz jungen Literatur-Ikonen, die sich drei Tage nach dem Erscheinen ganz oben in den Bestsellerlisten finden und mich dennoch nicht begeistern. Und dazwischen immer wieder Bewertungen der KollegInnen, die neugierig machen auf Bücher, die nicht auf meiner Liste sind und so wird ständig fremdgelesen, beigepflichtet oder quergeschossen. Die mahnende Mail des Börsenvereins trifft mich wie ein Blitz: In vier Tagen muss jeder seine Liste abgearbeitet haben und mir fehlen noch fünf Bücher, ich habe wohl zu viel in den Gärten der anderen gewildert, denn mehr als Tag und Nacht lesen kann man wohl nicht. Sie gewähren mir ein Wochenende Aufschub und natürlich schaffe ich es.

Wie wahrscheinlich jedes Jurymitglied in dem fünfzehnjährigen Bestehen des Deutschen Buchpreises hadere ich mit der Verantwortung, die ich hier habe. Nachdem es unmöglich ist, in vier Monaten über 200 Bücher zu lesen, ist eine Aufteilung selbstverständlich notwendig. Doch wenn ich ein Buch nicht gut finde, und die Bewertung so vernichtend oder uninteressant schreibe, dass keine/r der anderen JurorInnen Lust verspürt, es ebenfalls zu prüfen, ist dann das Buch sofort raus aus dem Spiel? Die bekannten Namen haben natürlich eine gewissen Startvorteil, keine Jury würde eine/n arrivierte/n AutorIn aufgrund einer einzigen negativen Stimme rauskicken, alle anderen lesen und prüfen und dann wird diskutiert und abgewogen. Deswegen werden viele Kommentare mit einem „Bitte, schaut euch das noch an“ versehen, was den Lesedruck natürlich wiederum erhöht.

Eine Woche vor der Sitzung zur Erstellung der Longlist schmilzt der Topf der in Frage kommenden Bücher auf vierzig bis fünfzig, doch gibt es darunter nur wenige, die wir alle gut finden. Meine große Enttäuschung erlebe ich bereits in den ersten Wochen, als ich mit großer Begeisterung für einen Titel bei den anderen auf wenig Gegenliebe stoße, ich lege mich ins Zeug, schreibe eine Zweit- oder Drittbegründung. Nicht, um die anderen zu überzeugen, sondern um so viele MitjurorInnen wie möglich dazu zu bekommen, das Buch zu lesen. Händeringend hoffe ich, dass doch noch einer dabei bist, der die Genialität erkennt, und sich auf meine Seite schlägt. Es tauchen aber auch Bücher auf den Lieblingslisten der JurorInnen auf, von denen ich nicht mehr als hundert Seiten schaffe, ich kann das nicht lesen, ich kann das nicht verstehen, ich kann das vermutlich nicht verkaufen, ja, ich habe schon Schwierigkeiten der Lobeshymne des Kollegen zu folgen. Und da, wie ein rettender Anker, eine kurze Mail des zweiten Buchhändlers in der Jury „Wir müssen das verhindern.“ Das sagt sich leichter, als es ist, besonders für uns BuchhändlerInnen. Natürlich haben wir jeden Tag mit Texten zu tun, selektieren für unseren Einkauf, erzählen den KundInnen unzählige Geschichten, aber mit Literaturkritik hat das wenig zu tun. Du hast ein sehr kurzes Zeitfenster, ein paar wenige Sätze, um jemanden zu überzeugen oder manchmal auch vom Kauf abzuhalten. Ich weiß, dass ich eine gute Buchhändlerin bin und auch gute von schlechten Texten unterscheiden kann, aber natürlich ist meine Herangehensweise eine andere als die einer Germanistin oder Literaturwissenschaftlerin. Oft fehlt mir der theoretische Überbau, die Referenztitel, manchmal auch die Bezüge zu Klassikern. Oder vielleicht einfach nur das Selbstbewusstsein? Bin ich deswegen in so einer wichtigen Jury fehl am Platz? In diesen Momenten des Zweifels, führe ich mir mantraartig vor Augen, dass es hier um den Preis des Börsenvereins des deutschen Buchhandels geht, nicht um den Büchner- oder Bachmannpreis. Der Roman, der hier gekürt werden soll, und danach hoffentlich in großen Mengen über den Ladentisch geht, soll für viele Leute lesbar sein und sie vielleicht sogar dazu animieren, öfter mal zum Buch zu greifen.

Die Sitzung zur Longlist ist anstrengend und dauert lange, denn jeder von uns versucht Lieblingsprojekte durchzubringen, andere zu verhindern, doch diskutiert wird immer mit Humor und Empathie und schon jetzt beginne ich, diese Runde zu vermissen, wenn der Wahnsinn vorbei ist.

Und dann kommt der große Tag, der Tag: Unser gemeinsames Baby, mit dem wir vier Monate schwanger gegangen sind, das wir gehegt und gepflegt haben, immer wieder diskutiert, gestritten und verändert haben, wird jetzt ins Licht der Welt geworfen und muss sich von allen begutachten lassen. Das Echo ist mehrheitlich wohlwollend, insbesondere die BuchhändlerInnen zeigen sich zufrieden, angesichts der Liste von „gut verkäuflichen“ Titeln. Die wenigen KritikerInnen sind umso lauter, besonders auf Facebook wird gezetert und getobt, ja, wenn das jetzt preiswürdige Literatur sei, dann müsse man den Literaturbegriff wohl neu definieren. Ich darf nichts kommentieren, nichts erklären und nichts richtig stellen. Zum Beispiel, dass einige der Bücher, die wir nicht gewürdigt haben, gar nicht eingereicht worden waren und dass einige der kritisierten von den SkeptikerInnen gar nicht gelesen worden waren. Wir Jurymitglieder beißen die Zähne zusammen, erinnern uns an die heftigen Diskussionen und unsere schöne Zusammenarbeit und freuen uns über unsere wohlüberlegte Liste. Und für die Tage nach der Preisverleihung liegt der neue Stephen King griffbereit neben meinem Bett.

(erschienen in der österreichischen Tagezeitung „Die Presse“ am 4. 10. 2019)

Reaktionen darauf:

Muss der deutsche Buchpreis vor seinen Juroren in Schutz genommen werden?

Ist der deutsche Buchpreis eine Mogelpackung?

Buchverhinderer

Roman des Jahres, ach das kann vieles heißen.

„Geheuchelte“ Aufregung