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Von der Realität eingeholt

Interview mit Jenny Erpenbeck

Ein pensionierter Wissenschaftler kommt auf die Idee, sich mit dem Thema „Zeit“ zu befassen. Er stößt auf eine Gruppe von Asylsuchenden aus Afrika, die am Berliner Oranienplatz ihre Zelte aufgeschlagen haben und für mehr Rechte, wie etwa das Recht auf Arbeit, ein-treten. Die Gespräche, die Richard mit den jungen Männern führt, ändern sein Leben grundlegend.

Petra Hartlieb: Das Buch ist erschienen, und plötzlich ist das Thema „Flüchtlinge“ in allen Medien. Wie war das für Sie, als ihr Buch auf einmal von der Realität eingeholt wurde.
Jenny Erpenbeck: Ich habe über ein Jahr mit den Flüchtlingen vom Oranienplatz geredet, bis ich 2014 wirklich zu schreiben begonnen habe. Damals war nicht abzusehen, dass das Thema wirklich in unseren Wohnzimmern ankommen wird, dass es jetzt plötzlich eine realistische Handlungsanweisung sein könnte, Flüchtlinge bei sich aufzunehmen.

Richard, Ihr Held, kommt ja ein wenig unvermittelt zu seinem Kontakt mit den Asylsuchenden. Warum haben Sie ihn gewählt?
Richard ist ein Mensch, der die Welt so anschaut, wie ich sie beim Schreiben anschaue.
Mit Naivität, Neugier und dem Bemühen, die Wertung zunächst draußen zu lassen. Vorgefasste Urteile, egal ob positiv oder negativ, verhindern erst mal Wahrnehmung, und mir ist es beim Schreiben und bei den Recherchen so gegangen, dass ich immer wieder Dinge revidieren musste. Ich hab nicht alles im Kopf und schreib das dann auf, sondern ich muss immer schauen, wie geht’s mir, was stößt mir zu, welche Dinge überfordern . Mich und da ist es ganz gut, wenn man die Wertung erst mal draußen lässt.

Ja, meistens ist es ja so, dass, wenn man die Menschen dahinter kennenlernt, auch diese diffuse Angst vor dem Fremden verschwindet.
Ob Haut schwarz oder weiß ist, hat mit dem Inhalt nicht das Geringste zu tun. Was sind Oberflächen, was sind die Geschichten dahinter? Ich finde, dass es für uns alle eine große Bereicherung wäre, diesen Schritt zu gehen. Diesen Schritt, der uns aus unserer Welt hinausführt und es uns ermöglicht, die Dinge plötzlich anders anzuschauen.

Ist es Zufall, dass Richard im Osten aufgewachsen ist?
Das hört sich vielleicht jetzt etwas lächerlich an, aber es gab einmal die Idee des proletarischen Internationalismus, dahinter steht, dass die Armen der Welt sich verbünden sollen. Die Attacken auf die Flüchtlinge richten sich ja gegen die vollkommen Falschen

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. Die, die zu uns kommen, sind ja Opfer von Entwicklungen, für die wir mitverantwortlich sind. Gerade die Leute bei uns, die existenzielle Angst empfinden, wenden sich also gegen die, die auch nichts haben.
Beim Schreiben war dann ziemlich bald klar, dass Richard kein Westler sein kann. Schließlich hat er auch die Erfahrung gemacht, dass er von einem Tag auf den anderen in einem anderen Land gelebt hat. Die DDR-Bürger mussten sämtliche gesellschaftlichen, sozialen und kulturellen Regeln noch mal ganz neu lernen. Viele haben damals ihre Arbeit verloren, es war ein großer Schock, dass man so viel Miete bezahlen muss, dass man auch ganz schnell rausfliegen kann. Dadurch ist Richard jemand, der sich in so eine Situation reinversetzen kann, der weiß, wie das ist, wenn man die Regeln nicht kennt.

 

 

Jenny Erpenbeck wurde 1967 in Berlin geboren. 1999 debütierte sie mit der Novelle.Geschichte vom alten Kind“, der weitere literarische Veröffentlichungen folgten. Ihr Roman.Aller Tage Abend“ wurde unter anderem mit dem Joseph-Breitbach-Preis und dem International Booker Prize ausgezeichnet..Gehen, ging, gegangen“ war für den Deutschen Buchpreis 2015 nominiert (Shortlist)