Eigentlich hab ich schon alles gelesen. Ich lese seit 45 Jahren und seit ungefähr 20 Jahren professionell. Und immer öfter spüre ich gewisse Ermüdungserscheinungen. „Kenn ich schon.“ „Hab ich schon gelesen.“ „Ganz gut, aber…“
So viele Lesejahre machen einem keineswegs zum einfachen Konsumenten. Außerdem gibt es noch diese neue Serie auf Netflix, über die alle reden, und wo man die erste Staffel immer noch nicht durch hat.
Und dann erzählt dir ein Verlagsmitarbeiter auf der Buchmesse von einem Wahnsinns-Tollen-Neuen-Noch-nie-Dagewesenen-Buch und du hörst dir die Geschichte an und denkst dir „Ja. Eh. Sicher.“ Und dann kommt noch eine zweite Mitarbeiterin, die sagt in ihrem unnachahmliche Dialekt: „Des isch da Hammer.“ Und du denkst dir wieder, ja okay, aber da ist ein Leuchten in ihren Augen und gleichzeitig so eine gewisse Traurigkeit, so, als wüssten sie bereits etwas, was du vielleicht später erfahren wirst.
Und dann ist endlich das Weihnachtsgeschäft vorbei und du erlaubst dir ein neues Buch zu lesen. Eines, dass im nächsten Jahr erscheinen wird und natürlich greifst du zu diesem einen Buch. Nicht nur, weil der Verlag es inzwischen mehrmals geschickt hat, damit du es ja nicht übersiehst, nein, auch weil du an diesem Cover nicht vorbeikommst. An diesem jungen Mann, der das Gesicht vor Lust oder Schmerz verzieht.
Aber bevor die Geschichte losgeht, liest du zwanzig Seiten Kritikerberichte, in denen sich alle überschlagen und dir erzählen, dass du so ein Buch noch nie gelesen hast. Ermüdung schleicht sich ein. Vielleicht doch lieber den neuen Boyle in den Urlaub mitnehmen? Warum müssen die das so hoch hängen? Kann es jetzt bitte einfach anfangen.
Und dann fängt es an und es nicht ganz einfach, die Personen auseinander zu halten, obwohl es nur vier sind, es springt auch ein wenig seltsam in der Zeit und du suchst nach Unterscheidungsmerkmalen und Markierungen, um die Geschichte einordnen zu können. Und was hier auf fast tausend Seiten ausgebreitet wird, ist ja eigentlich recht simpel: Die Freundschaft vierer Männer in New York im Laufe der Jahre.
Und plötzlich hat es dich. Es packt dich und lässt dich nicht mehr los. Es ist, als würde die Autorin direkt in dein Herz fassen und es einmal zusammen drücken. Und du weißt nicht genau warum, du kannst einfach nicht mehr aufhören, möchtest am liebsten immer wieder mal hundert Seiten überblättern, damit du weißt, wie es ausgeht (Stirbt jemand? Stirbt Jude? Bitte sagt mir, dass keiner stirbt!). Und manchmal möchtest du es in die Ecke werfen, weil es so unerträglich ist und manchmal auch, weil Abhandlungen darin vorkommen, die du irgendwie überfliegen möchtest, damit die Handlung weitergeht, die aber wiederum so klug geschrieben sind, dass du sie eigentlich ständig jemandem vorlesen willst, also liest du immer weiter, holst kaum Luft, organisierst dir nichts zu trinken, was gut ist, dann musst du wenigstens nicht aufs Klo.
Und dann kommt am Morgen des zweiten Weihnachtsfeiertages der Anruf eines Freundes, dass deine Wahlmama in der Nacht gestorben ist. Unsere Oma, der einzige alte Mensch, der mir wirklich nahesteht. Und du verbringst den Tag mit Weinen und Nachdenken und als du am Abend im Bett liegst, bist du so traurig, dass an Schlafen nicht zu denken ist. Um zwei Uhr morgens gibst du auf, ziehst dir einen warmen Pullover und dicke Socken an, holst dir das Buch, setzt dich in den Sessel und liest und liest. Und du weißt, du solltest es nicht tun, denn es ist tragisch und so aufwühlend, dass du sicher nicht wirst schlafen können, wegen der Oma nicht und auch nicht wegen des Buches. Und so sitze ich und lese, wie Jude erneut enttäuscht wird und bin traurig und weine, wegen Jude und dem Leben und wegen der Oma. Und irgendwann geh ich dann schlafen und was bleibt, ist die Traurigkeit aber es ist okay.
Das alles kann ein Buch, nicht oft, aber wenn es eines kann, dann ist es wie eine Naturgewalt.