1691 Meter mit Papa
September 2022
Oberösterreicher*innen erkenne ich immer ganz schnell, wenn ich erzähle, ich sei in Traun aufgewachsen. Die schenken mir nämlich ein wissendes, manchmal mitleidiges Lächeln. Alle anderen, die mit der Geographie des viertgrößten Bundeslandes nicht so vertraut sind, denken an Traunsee, Traunfall, den Fluss Traun und den Traunstein, und sagen: „Ah, wie schön!“ Tiefer See, hoher Berg, Dirndlkleider und Lederhosen und mit dem Ausflugsdampfer geht’s zum Steckerlfisch essen. Wunderschönes Salzkammergut.
Ja, durch Traun fließt auch die Traun, besser gesagt, sie fließt an Traun vorbei, aber schließlich befindet sich ja auch die Donau eher am Rand von Wien, obwohl es „an der schönen blauen Donau“ heißt. Also: Für alle nicht Oberösterreich*innen: Traun liegt zwischen Linz und Wels an der B1, bei der Autobahnabfahrt gibt es ein mittelgroßes Shoppingcenter, einen Ikea und eine Mustersiedlung aus Fertigteilhäusern. In meiner Kindheit gab es in der sogenannten Innenstadt noch eine kleine Einkaufsstraße, die kämpft seit Jahrzehnten gegen das viertgrößte Shoppingcenter Österreichs, die Plus-City, die drei Kilometer von Traun entfernt liegt.
In Traun gibt es mehrere Kreisverkehre, eine neugotische Kirche, die zur Gänze vom Rathaus verdeckt wird, ein kleines Schloss und das Kulturzentrum Spinnerei.
Hier bin ich in einem Mehrparteienhaus , inmitten von anderen Mehrparteienhäusern, aufgewachsen. Hinter dem einzigen Hochhaus gab es eine Gstättn, von uns „Wüdnis“ genannt, mit einem Hügel, unter dem ein Kriegsbunker notdürftig zugeschüttet war. Uns Kindern war es streng verboten, da reinzugehen, doch niemand hatte etwas dagegen, dass wir auf dem Bunker im Winter rodelten und im Sommer spielten.
Wenn meine Mutter Kopfweh hatte, bedeutete das: Föhnwetterlage. Dann war der Himmel hoch und weit, und man sah die Berge. Die Berge, die da waren, wo das mit „Traun“ schön ist: den Traunstein, den Erlakogel, auch „schlafende Griechin“ genannt, den Großen Priel und so weiter. Unzählige Wochenende bin ich mit meinem Vater auf eben diese Berge gestiegen, nicht immer ganz freiwillig, aber oft war es auch die einzige Möglichkeit, Papa-Zeit zu verbringen. Unter der Woche arbeitete er, und am Wochenende wollte er auf einen Berg.
Als ich nach der Matura fluchtartig meinen Heimatort verlassen habe, um in Wien endlich mit dem echten, dem wilden Leben zu beginnen, dachte ich nicht daran, jemals wieder auf einen Berg zu steigen. Na gut, vielleicht auf den Nussberg zum Heurigen oder auf den Kahlenberg, um in lauen Augustnächten mit dem damaligen Freund zu knutschen. Aber da konnte man schließlich auch mit dem Auto oder Bus rauffahren.
Doch als ich älter wurde, zogen mich plötzlich die gelben Markierungen der Wanderwege immer mehr an. Wanderurlaube in Osttirol, die Wohnung eines Freundes in Mariazell als Ausgangspunkt für Touren und ja, auch von Wien aus kann man richtige Berge erreichen: Rax, Schneealpe, Ötscher.
Nachdem mein Papa irgendwann nicht mehr gehen, geschweige denn auf einen Berg konnte, schickte ich ihm Fotos meiner Wanderungen, und er wollte immer alles genau wissen: Von wo rauf? Von wo runter? Wie hoch? Wie viele Höhenmeter? Wie lange? Und am Ende meiner Beschreibungen sagte er immer: „Tüchtig!“ So erwachsen kann man gar nicht sein, dass einem das Wort „tüchtig“ aus Papas Mund nicht irgendwie gut tut.
Bevor er die Krücken gegen den Rollstuhl eintauschen musste, schafften wir noch einen gemeinsamen Ausflug, Wir fuhren zum Traunsee, aßen Fisch beim Hoisnwirt und schauten gemeinsam auf den Traunstein, ich ehrfürchtig, mein Papa wehmütig, er erzählte von unserem gemeinsamen Aufstieg – ich glaube, ich war sechzehn – an den ich mich so gut wie nicht mehr erinnern kann.
Und dann ging alles sehr schnell. Mitten in der schlimmsten Corona-Anfangsphase kam er ins Altersheim, immer wieder musste er ins Krankenhaus und obwohl die Ärzte meinten, es wäre nicht so dramatisch, fuhr ich im März 2021 Hals über Kopf nach Linz, mit dem Gefühl, ich müsse mich beeilen. Er lag an diversen Geräten im Krankenhausbett, hielt meine Hand und schien mich nur mühsam zu erkennen. Irgendwann, an diesem langen Nachmittag fragte er mich: „Muss ich jetzt schon sterben?“ „Nein“, sagte ich. „Du stirbst jetzt fix nicht, wir wollten doch im Sommer zum Traunsee fahren.“ Da legte er den Kopf zurück in die Kissen und grinste mich an: „Dann gemma auffi am Traunstein!“
Ob er meine Antwort, ich sei ja auch nicht mehr so jung und so fit und wüsste nicht, ob ich das schaffen würde, noch verstanden hat, weiß ich nicht. Ich glaube, das war unser letzter zusammenhängender Dialog. Zwei Tage später ist er friedlich eingeschlafen.
Und dann setzte sich diese Idee in meinem Kopf fest: Ich muss auf diesen Berg. Irgendwie ist es „unser“ Berg und so richtig verabschieden kann ich mich von meinem Papa nur, wenn ich von ganz oben auf den Traunsee runterschaue.
Wochenlange Planung mit einer Freundin, Probewanderung über die Rax, Studium sämtlicher Wanderkarten, Durchlesen aller Berichte auf den einschlägigen Internetseiten, Ausleihen der Klettersteiggurte, Reservierung eines Doppelzimmers beim Hoisnwirt (erste Nacht), Reservierung zweier Schlafplätze in der Gmundnerhütte (zweite Nacht), große Aufgeregtheit und dann der Anruf der Freundin vierundzwanzig Stunden vor der Abreise: „Ich kann nicht weg, das Kind ist corona-positiv.“
Manchmal bin ich zwar ein wenig impulsiv, aber so verrückt, allein auf so einen Berg zu gehen, bin ich nicht, also wollte ich alles abblasen. Andererseits, konnte man das Hotel nicht mehr stornieren, also vielleicht an den See fahren, spazieren gehen und raufschauen?
Mein Mann (nicht auf Facebook) gab mir den Rat: „Poste es auf Facebook! Vielleicht findet sich jemand?“
Ja aber? Irgendwer? Für so eine Tour? Ein Doppelbett beim Hoisnwirt? Na gut, absagen kann man immer noch. Nun folgten die typischen Socialmedia-Ratschläge zwischen Empörung und Ermahnungen: Der Traunstein wäre gefährlich, so eine Wanderung kein Kinderspiel, in meinem Alter (als Wienerin) sollte man das nicht wagen. Fast war ich ein bisschen froh, als sich niemand meldet, also doch ein kleiner Spaziergang allein am See?
Und dann kam ein unerwarteter Anruf, und eine Frage in breitestem oberösterreichischem Dialekt: „Wüst du Verruckte echt am Traunstoa?“ Stefan stammt aus dem Innviertel und lebt in Traun
„Ja, ich will. Kommst mit?“
„Ja.“
Um zu erklären, wer Stefan ist, muss ich in meiner Trauner Geschichte kurz ausholen. Wie gesagt, nicht alles an Traun war schlecht, so auch meine Schule, das Bundesrealgymnasium Traun. Moderne Architektur, irgendwie weltoffen (zumindest teilweise) und ein paar coole LehrerInnen. Unter anderem meine Französischlehrerin und mein Geschichtelehrer, damals frisch von der Uni und bald meine wichtigsten Bezugspunkte außerhalb des konfliktträchtigen Elternhauses. Sie waren ein Paar, bekamen Kinder, ich war Trauzeugin bei ihrer Hochzeit. Und eine der Töchter, Pia, lernte schließlich Stefan kennen. Stefan aus der Pfarre, obwohl die gesamte Familie komplett atheistisch ist. Unsere Freundschaft ging in die nächste Generation über und Pia und Stefan waren eine große Unterstützung als mein Vater immer gebrechlicher wurde. Altersheim, Krankenhaus und schließlich die Beerdigung. Stefan ist Pfarrassistent in der Stadtpfarre Traun und er war es auch, der das Begräbnis meines Vaters abgehalten hatte. Ein echter Seiltanz, angesichts der wenig gläubigen Hinterbliebenen und dem Anspruch, es so zu machen, das der Vater es für gut befunden hätte. Es war perfekt: würdevoll, christlich und nicht zu heilig.
Und nun wollte er mit mir auf diesen aufgeladenen Berg. Ich fuhr mit dem Zug nach Traun, Stefan holte mich vom Bahnhof ab und am Nachmittag waren wir beim Hoisnwirt. Kaffee und Kuchen, Schwimmen im See, Abendessen und dann gemeinsam im Doppelbett, schließlich hatte ich ja für mich und die Freundin gebucht.
Der Wecker klingelte um halb sechs, in der Küche des Gasthauses lagen unsere Lunchpakete und um sieben Uhr früh stiegen wir in den berüchtigten Naturfreundesteig ein. Die ersten paar hundert Meter etwas zittrig, wir hatten uns geschworen, umzukehren, sollten wir den Anfang zu arg finden. Doch irgendwann waren wir so weit oben, dass Umkehren keine Option war und wir stiegen immer weiter. Ich setzte Fuß vor Fuß, wo es möglich war, sicherte ich mich mit dem Klettergurt, schaute manchmal runter auf den See aber nicht zu oft, weil das mit der Schwindelfreiheit im Alter auch nicht gerade besser wird und irgendwann – nach über fünf Stunden waren wir oben. Ganz oben. Auf dem Traunstein. Mit zittrigen Knien, komplett durchgeschwitzt und erschöpft, aber: Wir waren oben. Und ich habe mehr oder weniger den ganzen Aufstieg an meinen Papa gedacht, na gut, auch ein wenig geflucht und gejammert, aber viel an ihn gedacht, an unsere gemeinsamen Bergtouren auf den Priel, den großen Pyhrgas, das Warscheneck, den Sonnstein …
Leider hatte Stefan keine Zeit für eine weitere Nacht und wir machten uns nach einer Pause auf beiden Hütten wieder an den Abstieg. Diesmal über die Moaralm, das klang ganz gemütlich, konnte also nicht so wild sein. Doch wer tausendzweihundert Höhenmeter raufgeht, muss wohl auch tausendzweihundert Höhenmeter wieder runtergehen, also doch wild. Die letzten zwei Stunden dachte ich viel an die klugen Kommentare auf Facebook: „Traunstein kein Kinderspiel“ „Gefährlich“ „Nichts für Städter*innen“. Und Stefan, der immer vor mir ging, mich mit Müsliriegel und Wasser versorgte und mir, wenn ich der Verzweiflung nahe war, zuredete wie einem kleinen Kind: „Du machst das großartig! Du bist tüchtig!“
Das hätte mein Papa auch gesagt, und nachher hätten wir beide festgestellt, dass es eh nicht arg war. Nun ist mein Muskelkater endlich abgeklungen, meine Erschöpfung hab ich weggeschlafen und ich glaube, wir machen es nächstes Jahr wieder. Zu dritt und mit Übernachtung auf der Hütte.
Dieser Text ist zuerst im Standard-Album (September 2022) erschienen.